Interview zu Machtbegriff in all seinen Facetten
Ich habe dem Redaktionsnetzwerk Deutschland ein Interview zum Thema Macht gegeben, in all ihren Facetten: vom Machtwillen & Machtverzicht bei Politiker_innen, über die informelle Macht der Verwaltung bis hin zu Macht und Wissen als diskriminierende Strukturen. Weil der Originalbeitrag hinter einer Paywall ist, veröffentliche ich das komplette Interview hier.
Sozialwissenschaftler im Interview
Abgedankt: Wann verzichten wir auf Macht – und wem fällt das besonders schwer?
Manche werden aus dem Amt gedrängt, andere nehmen freiwillig ihren Hut. Doch eines scheint Machtverzicht nie zu sein: einfach. Welche Kräfte sind hier am Werk? Und ziehen sich Frauen eigentlich bereitwilliger zurück? Der Sozialwissenschaftler Karsten Schubert gibt Antworten – und plädiert für ein breiteres Verständnis von Macht.
Berlin. Es ist an der Zeit zu gehen. Dieser Einsicht war Malu Dreyer, als sie im Juni aus gesundheitlichen Gründen ihren Rücktritt als Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz bekannt gab. Einen Monat später verzichtete Außenministerin Annalena Baerbock auf eine erneute Kanzlerkandidatur. Im Falle von Joe Biden dagegen hielten viele Beobachter den Schritt für überfällig, lange bevor der Präsident am 21. Juli verkündete, er kandidiere nun doch nicht für die US-Wahlen.
Ein typisches Verhalten machtbesessener Männer? So einfach ist es nicht, gibt Sozialwissenschaftler Karsten Schubert zu bedenken. Der politische Theoretiker an der Humboldt-Universität Berlin erforscht die Dynamiken der Macht. Die nämlich seien etwas viel Komplexeres, als der bloße Einfluss von Kanzlern, Chefinnen und Bossen. Schubert verwendet genderneutrale Formen, daher werden sie im nachfolgenden Text – entgegen der redaktionellen Leitlinien des RND – entsprechend wiedergegeben.
Herr Schubert, die Absage Joe Bidens, erneut als US-Präsident zu kandidieren, erfolgte erst, als sich auch aus den eigenen Reihen die Stimmen gegen ihn mehrten. Warum fällt es so schwer, auf Macht zu verzichten?
Das Ziel von Politiker*innen ist es, die Gesellschaft zu gestalten. Deswegen machen sie diesen Job. Und am meisten Raum zur Gestaltung haben sie in möglichst hohen Regierungsämtern. Dieser Wille zur Regierungsmacht trifft in demokratischen Systemen auf die Notwendigkeit eines Machtwechsels, herbeigeführt durch Wahlen, durch Rücktrittsforderungen oder dem gesetzlich festgelegten Ablaufen einer Amtszeit. Macht ist in einer Demokratie also stets etwas Prekäres. Die Spannung zwischen individuellem Machtstreben und grundsätzlich wechselnder Macht gehört zur Demokratie.
Also ist es ein gutes Zeichen, dass Joe Biden erst nach großem Widerstand seinen Rückzug verkündet hat?
Man könnte sagen, eine Komponente der Demokratie erodiert, wenn dieser Mechanismus – Machtentzug, Rücktritte und Verzicht durch politischen Druck – nicht mehr funktioniert. Dass Biden nach langem Ringen verzichtet hat, ist insofern beruhigend. Hätte er weiter an der Kandidatur festgehalten, wäre das ein Zeichen für eine fehlende Bereitschaft, auf die öffentliche Debatte einzugehen, die sehr problematisch wäre. Denn die effektive Kontrolle durch die Öffentlichkeit ist ein zentrales Element der Demokratie.
Unter den Politikern scheint es aber auch Menschen zu geben, die weniger verbissen an der Macht festhalten. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer hat unerwartet und selbstbestimmt ihr Amt niedergelegt. Ähnlich überraschend kam der Verzicht Annalena Baerbocks, erneut als Kanzlerkandidatin anzutreten. Gelingt es Frauen im Schnitt besser, sich von der Macht zu lösen?
An Malu Dreyer und Annalena Baerbock lassen sich zwei grundlegend verschiedene Typen des Verzichts aufzeigen. Dreyer verzichtete aus persönlichen, vor allem gesundheitlichen Gründen. Baerbock aus wahlstrategischen Gründen und innerparteilichen Aushandlungen. Und vor allem bei Letzterer gilt es zu erinnern: Sie hatte sich zuletzt als Kandidatin gegen Habeck durchgesetzt. Es war damals also der Mann, der sich zurückzog.
Das Geschlecht spielt also keine Rolle?
Der Bonner Politikwissenschaftler Manuel Becker hat zu Rücktritten von politischen Ämtern in Deutschland geforscht und konnte keine Geschlechterunterschiede feststellen. Das scheint auch mir plausibel. Wir sprechen hier von Spitzenpolitiker*innen. Und ganz gleich ob Mann oder Frau: Wer in dieser Ebene mitspielt, muss zwangsläufig die Klaviatur der Macht beherrschen. Denken Sie an die Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, die aller öffentlicher Kritik zum Trotz an ihrem Amt festhält und die Aufklärung der Förderaffäre blockiert. Hier mangelt es also an der Bereitschaft, die öffentliche Kontrolle zu akzeptieren.
Allerdings lässt sich feststellen, dass die Rücktritte aus persönlichen Gründen zunehmen, und zwar geschlechterübergreifend. Dafür bietet nicht nur Malu Dreyer ein Beispiel, sondern ebenso der ehemalige Hamburger Bürgermeister Ole von Beust oder der SPD-Politiker Michael Roth, der seinen Rückzug aus der Politik angekündigt hat.
Aus analytischer Perspektive scheint es mir hilfreich, Macht weniger zu personalisieren, sondern vielmehr ganzheitlich als ein Wirkungsverhältnis sozialer Strukturen zu begreifen.
Sind Frauen und Männer denn gleichermaßen interessiert daran, das Spiel auf der „Klaviatur der Macht“ zu erlernen?
Ich denke, verhaltensbiologische Spekulationen helfen hier nicht weiter. Die Frage ist eher, welche Strukturen überhaupt geschaffen werden, um Frauen oder Männer zu politischem Engagement zu ermutigen und welche Hürden sie dann erwarten. Hier lohnt sich ein Vergleich der Parteien. Die Grünen haben einen sehr großen Frauenanteil von der Basis bis zu Ricarda Lang an der Parteispitze. Andere Parteien haben weniger vom Feminismus gelernt und sind deutlich rückschrittlicher.
Die AfD hat mit der Vorsitzenden Alice Weidel und der Abgeordneten Beatrix von Storch zwei medial sehr präsente Politikerinnen vorzuweisen. Hat also auch diese Partei vom Feminismus gelernt?
Nein, das kann man nicht sagen. Die AfD ist zum allergrößten Teil männlich besetzt. 88 Abgeordnete sitzen für sie im Bundestag, nur neun davon sind Frauen. Sie bilden die Ausnahme dieser männlich dominierten Parteistruktur, aber widerlegen sie nicht. Zumal Alice Weidel keine feministische Politik vertritt. Es kann für rechte Politik sogar gerade geschickt sein, eine Frau an die Spitze zu stellen, die sich gegen den Feminismus ausspricht.
Wenn wir uns der Macht grundlegender widmen, scheint sie eine Eigendynamik zu entwickeln. Sie kann Menschen verändern. Reden wir eigentlich zurecht von „Machthabern“ oder ist es oft vielmehr die Macht, die über den Menschen verfügt?
Innerhalb unseres politischen Systems stimmt es durchaus, dass bestimmte Menschen in bestimmten Positionen „Macht haben“. Darauf basiert unsere verfassungsrechtlich kodifizierte Ordnung, die voraussetzt, dass Macht lokalisiert ist und übertragen werden kann. Alle Macht, beziehungsweise „Staatsgewalt“, wie es im Grundgesetz heißt, geht „vom Volke aus“ und wird von diesem dem Parlament verliehen. Das wiederum konstituiert die Regierung. Es handelt sich also um einen Machtfluss, der demokratisch legitimierte Herrschaft erzeugt. Allerdings ist diese sehr formale Auffassung von politischer Macht nur eine Seite der Medaille.
So einfach ist die Sache mit der Macht in unserer Demokratie also nicht?
Die Machtausübung eines Regierenden ist einer Vielzahl von Zwängen unterworfen, die sich aus dem politischen System ergeben. Diese Relativierung der Macht einzelner Politiker*innen wurde vom Soziologen Niklas Luhmann treffend beschrieben. Formal verfügt das Volk über die Politik und die Politik über die Verwaltung. Doch daneben gibt es einen umgekehrten informellen Machtkreislauf: Das Volk beeinflusst die Verwaltung, beispielsweise durch Verbände, die wiederum den Handlungsrahmen der Politik absteckt und damit eine beträchtliche Macht ausübt. Zugleich greift die Politik in die Willensbildung des Volkes ein, indem sie Repräsentationsangebote macht. Aufgrund dieser Komplexität verwirft Luhmann den Begriff der Macht als etwas, das man als Einzelperson oder Institution besitzen könne. Sie ist vielmehr ein Medium, durch das Handlungsräume strukturiert werden.
Macht wirkt auch unbemerkt in gesellschaftlichen Verhaltensweisen, bestimmt unser Zusammenleben, unseren Zugang zur Welt, sogar unser Selbstverständnis.
Aus der Schule erinnere ich mich an die Definition, Macht sei die Fähigkeit, seine eigenen Interessen durchzusetzen. Das ist also zu simpel?
In der Tagespolitik ist es nach wie vor angemessen, davon zu sprechen, dass Politikerinnen „Macht haben“ und sich als Individuum gegen Mitbewerberinnen „durchsetzen“. Dieses Machtverständnis gehört zu den Regeln des Systems und es würde dessen Funktionieren auch entgegenstehen, wenn wir nur noch mit anderen, sozialwissenschaftlichen Machtbegriffen darüber sprechen würden. Doch aus analytischer Perspektive scheint es mir hilfreich, Macht weniger zu personalisieren, sondern vielmehr ganzheitlich als ein Wirkungsverhältnis sozialer Strukturen zu begreifen.
Was meinen Sie damit?
In diesem Verständnis – so hat es vor allem der französische Philosoph Michel Foucault gedacht – wirkt die Macht auch unbemerkt in gesellschaftlichen Verhaltensweisen, bestimmt unser Zusammenleben, unseren Zugang zur Welt, sogar unser Selbstverständnis. Sie äußert sich in Wissensbeständen, Institutionen und Normen, ist aber nicht an einzelne Akteure geknüpft.
Das klingt reichlich abstrakt. Haben Sie auch ein Beispiel für diese strukturelle Art der Macht?
Ein gutes Beispiel ist die Norm der Heterosexualität, auch „Heteronormativität“ genannt. Diese Norm besagt, es sei selbstverständlich, dass Menschen entweder männlich oder weiblich sind und das jeweils andere Geschlecht begehren. Die Macht dieser Norm äußerte sich darin, dass die gleichgeschlechtliche Ehe lange undenkbar war und Homosexualität bis in die 1990er Jahre kriminalisiert wurde. Die Medizin und Psychiatrie haben Homosexualität als Krankheit behandelt, die es zu „heilen“ gelte.
Und in der Architektur wird die Norm der Zweigeschlechtlichkeit im wörtlichen Sinne „in Stein gemeißelt“. Sei es bei Toiletten, Schlafsälen oder Umkleidekabinen. Es gibt also Macht, die nicht in der Hand der Individuen liegt, sondern sie vielmehr zu dem macht, was sie sind und strukturiert, wie sie denken und handeln.
Beliebter scheint eher der klassische Machtbegriff zu sein, wie er in Serien wie „Game of Thrones“ oder „House of Cards“ zur Schau getragen wird. Was hilft uns ein sozialwissenschaftlicher, unpersönlicher Machtbegriff, der derart von unserem Alltagsverständnis abweicht?
Er hilft uns bei der Analyse tiefgreifender diskriminierender Strukturen und somit auch bei ihrer Behebung. Für unsere Gesellschaft sind die Konsequenzen enorm: Dieses Machtverständnis vermag uns dabei zu helfen, uns von Selbstverständlichkeiten und Vorurteilen zu emanzipieren, die wir seit Generationen mit uns tragen, aber schädlich sind. So können wir als Gemeinschaft bessere Politik machen. Darüber hinaus hilft die kritische Reflexion von Normen allen Menschen, sich aus dem Korsett gesellschaftlicher Erwartungen etwas zu lösen.
Identitätspolitik vermag es, diskriminierende Strukturen aufzudecken, bewusst zu machen und einen wirklichen Wandel der Denkweisen und Institutionen anzustoßen. Sie ist ein machtvolles Eintreten für gesellschaftlichen Fortschritt.
Es klingt so, als wäre die Macht eher etwas Schlechtes. Als gesellschaftliche Kraft bringt sie Diskriminierung hervor und auf politischer Ebene muss sie durch Regeln eingehegt werden. Ist Macht per se böse?
Die Verhinderung von einer zu starken Konzentration individueller Macht ist konstitutiv für demokratische Systeme. Doch natürlich ist Politik ohne Macht nicht denkbar. Es braucht sie, um kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen. Was den sogenannten „holistischen“, also ganzheitlichen Machtbegriff angeht, muss bedacht werden, dass die kritische Sozialwissenschaft, die diesen Begriff prägte, es sich zur Aufgabe gemacht hat, gesellschaftliche Missstände zu analysieren. Dadurch erklärt sich der negative Fokus, zum Beispiel auf diskriminierende Strukturen. Doch indem Macht uns und unser Denken beeinflusst, ist sie auch produktiv und schafft Handlungsmöglichkeiten. Macht ist in diesem Verständnis immer beides: ermöglichend und einschränkend.
Unsere gesamte Gesellschaft scheint – folgt man Ihren Ausführungen – von Macht durchzogen zu sein. Wo bleibt denn da die Freiheit?
Bei dem Freiheitsbegriff, der zu diesem Machtbegriff passt, geht es um die Fähigkeit zur Kritik solcher Machtstrukturen. Deshalb bin ich auch ein Befürworter der Identitätspolitik, die ich in meinem Buch „Lob der Identitätspolitik“, das im September erscheint, gegen ihre zahlreichen Kritiker*innen verteidige. Identitätspolitik vermag es, diskriminierende Strukturen aufzudecken, bewusst zu machen und einen wirklichen Wandel der Denkweisen und Institutionen anzustoßen.
Ein Beispiel für eine identitätspolitische Forderung ist es, Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen gleich aufzuteilen. Dafür muss sie aber erst einmal als Arbeit anerkannt werden – ein Umdenken, für das sich der Feminismus seit langem und durchaus mit Erfolgt einsetzt. Identitätspolitik ist also ihrerseits ein machtvolles Eintreten für gesellschaftlichen Fortschritt.
Zu den größten Gegnern von Identitätspolitik gehören die US-Republikaner. Wie blicken Sie auf einen möglichen Wahlsieg Donald Trumps bei den Wahlen im Herbst?
Schon jetzt gibt es in republikanisch regierten US-Staaten eine starke Einschränkung der Rechte von Frauen, queerer Menschen und Migrant*innen. Siegt Trump bei den Präsidentschaftswahlen, befürchte ich, dass sich der Druck auf marginalisierte Gruppen landesweit erhöhen wird. Und es besteht die Gefahr, dass die demokratischen Institutionen immer weiter ausgehöhlt werden, weil immer mehr Antidemokraten in hohe Positionen gelangen und das System erodiert. Das „Sterben von Demokratien“ vollzieht sich heute nicht durch einen Staatsstreich, sondern durch das langsame Umstrukturieren von Institutionen, die nur dann Bestand haben, wenn sie von Amtsträgern mit demokratischem Ethos gestützt werden. Noch ist nicht entschieden, ob der Rechtspopulismus siegt. Mit der Kandidatur von Kamala Harris werden die Karten noch einmal neu gemischt.