Mein neuer Artikel im Sammelband Die Idee der Freiheit und ihre Semantiken analysiert, wie Liberalismus und Hegelianismus bzw. negative Freiheit und soziale Freiheit im Zusammenspiel für Anti-Identitätspolitik mobilisiert werden können und werden. Dies ist kein Missbrauch oder Missverständnis, sondern systematisch im Universalismus beider Freiheitsbegriffe angelegt - und ein Baustein zur Erklärung, warum viele selbsterklärte oder ehemalige Linke heute gegen Identitätspolitik anschreiben.

Abstract

In den aktuellen Kulturkämpfen kritisieren Konservative Identitätspolitik und “Cancel Culture” als Einschränkungen von individueller Freiheit. Der Artikel untersucht die dabei zugrundeliegenden Freiheitsbegriffe. Die konservative Kritik stützt sich in der Regel auf einen negativen Begriff von Freiheit als Nichteinmischung im Sinne der liberalen Tradition. In der politischen Theorie wird ein solcher negativer Freiheitsbegriff als Gegensatz zur Auffassung von sozialer Freiheit gesehen, die Freiheit in hegelianischer und kommunitaristischer Tradition als ein gemeinschaftliches Unternehmen begreift. Der Artikel zeigt, dass beide Konzepte – trotz ihrer philosophischen Gegensätze – in der zeitgenössischen konservativen Kritik an Identitätspolitik übereinstimmen und daher politisch kompatibel sind. Beide Freiheitsbegriffe kranken an einem falschen Universalismus. Im Gegensatz dazu hilft die radikaldemokratische Tradition, Freiheit partikularistisch zu verstehen. Dabei wird verständlich, dass Identitätspolitik nicht in erster Linie eine Einschränkung individueller Freiheit ist, sondern als Demokratisierung der Demokratie ein Beitrag zur Freiheit aller ist.

Der Band

Der von Nicole J. Saam und Heiner Bielefeldt herausgegebene Band Die Idee der Freiheit und ihre Semantiken. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit ist open access bei transcript abrufbar. Die interdisziplinären Beiträge ermöglichen eine komplexe Diskussion der unterschiedlichen Facetten von Freiheit. Ich freue mich sehr, dabei zu sein und empfehle die Lektüre des gesamten Bandes.

»Freiheit« findet als politisch-rechtliche Leitidee der Moderne weitreichende Zustimmung. Bei näherem Hinsehen zeigen sich gleichwohl höchst unterschiedliche Deutungen und Akzentuierungen. Darüber hinaus ist der Freiheitsbegriff semantischen Umkehrungen ausgesetzt, die sogar darauf hinauslaufen können, faktische Unfreiheit als höchste Freiheit auszugeben. Die interdisziplinären Beiträge sprechen sich für ein anspruchsvolles Freiheitsverständnis aus und legen ihr Augenmerk nicht zuletzt auf die relationale Dimension von Freiheitspraxen.

Mehr: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-6188-0/die-idee-der-freiheit-und-ihre-semantiken/?number=978-3-8394-6188-4&c=313000022

Zitieren und downloaden

Schubert, Karsten (2023): In Ruhe gelassen werden. Das Zusammenspiel von negativer und sozialer Freiheit in der Kritik an Identitätspolitik. In: N. J. Saam & H. Bielefeldt (Hg.): Die Idee der Freiheit und ihre Semantiken. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit. Bielefeld: transcript, 149–158.
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