Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit hat eine hitzige Diskussion darüber losgetreten, ob die Wissenschaft durch Moralisierung und Politisierung bedroht wird. Identitätspolitik und ‘Cancel Culture’ hätten demnach auch in die Wissenschaft Einzug erhalten und würden zum Ausschluss von kontroversen wissenschaftlichen Positionen führen und damit kritischen wissenschaftlichen Austausch verunmöglichen. Dagegen wird angeführt, dass das Netzwerk selbst eine konservative politische Agenda verfolge und gezielt emanzipative Denkschulen angreife.

Im neuen Artikel, der in der Zeitschrift für praktische Philosophie erschienen ist, analysiere ich die zwei der Debatte zugrundeliegenden (Wissenschafts-)Freiheitsbegriffe. Ich kontrastiere den negativen Begriff der Wissenschaftsfreiheit des Netzwerks - hier wird Wissenschaftsfreiheit als Freiheit von Politik verstanden - mit dem kritischen Begriff der Wissenschaftsfreiheit. Nach dem kritischen Begriff ist Diversifizierung und Demokratisierung für die Realisierung von Wissenschaftsfreiheit entscheidend. Neben der Stärkung marginalisierter Standpunkte ist ein zentrales Element solcher Diversifizierung, die Arbeitsverhältnisse für #ichbinhanna zu verbessern.

Der Artikel liefert zum ersten Mal einen systematischen Zugriff auf diesen Deutungskampf um die Wissenschaftsfreiheit und bringt die Debatte einen wichtigen Schritt weiter: Er zeigt, wie und warum der negative Begriff der Wissenschaftsfreiheit scheitert und erläutert, wie die vom kritischen Begriff geforderte Diversifizierung verstanden und umgesetzt werden kann. Und er zeigt, warum auch die Wissenschaftsfreiheit der sich im Netzwerk zusammengeschlossenen Professor_innen vom Umbau der wissenschaftlichen Macht- und Privilegienstrukturen nicht in einer problematischen Weise einschränkt wird.

Abstract

Wissenschaftsfreiheit wird vorherrschend als Freiheit der Wissenschaft von politischer Einmischung verstanden. Der Artikel kritisiert dieses negative Verständnis von Wissenschaftsfreiheit anhand einer Analyse seines prominentesten Vertreters, dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, das damit eine Politisierung einseitig den Vertreter*innen gesellschaftskritischer Ansätze zuschreibt, während es die eigene Position als ‚rein wissenschaftlich‘ und politisch neutral dargestellt. Demgegenüber schlägt der Artikel ein kritisches Verständnis von Wissenschaftsfreiheit vor, das seine Politizität reflektiert. Ausgehend von der Analyse, dass starre Macht- und Privilegienstrukturen das zentrale Hindernis für die gemeinsame Arbeit an wissenschaftlicher Objektivität sind, geht es beim kritischen Begriff der Wissenschaftsfreiheit um die Reflexion und Transformation des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik. Dabei steht die Diversifizierung von Zugangschancen und Standpunkten innerhalb der Wissenschaft im Mittelpunkt – also die Neuverteilung von Macht und Privilegien. Der Artikel entwickelt dieses Verständnis aus einer Diskussion des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik in zwei philosophischen Begründungsmöglichkeiten der Wissenschaftsfreiheit und aus einer Rekonstruktion der kritischen politischen Theorie, insbesondere der foucaultschen Machttheorie und der feministischen Standpunkttheorie. Er zeigt auf dieser Grundlage, dass drei verschiedene Arten der Diversifizierung der Wissenschaft – intern, extern-institutionell und extern-aktivistisch –, die vom vor dem Hintergrund des negativen Begriffs als Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit verstanden werden, tatsächlich zu ihrer Verbesserung beitragen.

Zitieren und downloaden (open access)

Schubert, Karsten (2023): Zwei Begriffe Der Wissenschaftsfreiheit. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie 10 (1), 39–78. https://doi.org/10.22613/zfpp/10.1.2.


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