Im Badischen Tagblatt äußere ich mich in einem Artikel zur Frage, wie plötzlich der Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik kam und weise darauf hin, dass der erhöhte Wehretat zu größerer Ungleichheit führen kann. Hier ist der Artikel als Bild, hier als pdf und unten als Blogtext.


Nicht die erste Zeitenwende

Wie einschneidende Ereignisse gesellschaftliche Überzeugungen auf den Kopf stellen

Von BT-Redakteurin Nadine Fissl Tübingen/Freiburg – Diskussionen um eine Wehrpflicht und 100 Milliarden für die Bundeswehr: Die Welt ist heute eine andere, als sie es noch vor Wochen war. Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin auch in Deutschland einen Stein ins Rollen gebracht – und alte Diskussionen neu entfacht. Doch wie kann es sein, dass einzelne Ereignisse die kollektive Einstellung einer ganzen Bevölkerung auf den Kopf stellen?

„Wenn Einigkeit darüber erzielt werden kann, was das Problem ist, dann kann man auf einmal Dinge tun, die vorher unmöglich schienen“, erklärt Ewald Frie, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen. Im Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ befasst er sich mit genau solchen Situationen.

Wenn Menschen das Vertrauen in gewohnte Abläufe, das Handeln ihrer Mitmenschen und den Glauben an eine sichere Zukunft verlieren, reagieren sie emotional, sprechen verstärkt über die Bedrohung und suchen nach Lösungen. „Soziale Gruppen stehen plötzlich unter hohem Druck und haben das Gefühl: Jetzt müssen sie etwas tun“, erläutert Frie. Gleichzeitig werde nur noch über wenig anderes gesprochen. „Normalerweise gibt es eine Konkurrenz um verschiedene Themen und die tauchen auch ganz schnell auf und wieder ab.“ Ist der Fokus aber einmal gesetzt, „haben solche Situationen enormes Potenzial, Veränderungen zu bewirken“.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Das ist kein neues Phänomen. Beispiele aus der deutschen Geschichte gibt es genug. Juli 1870: In Bayern, Württemberg und Baden gibt es große Widerstände gegen den Eintritt in den deutschen Nationalstaat. „Dann kommt die französische Kriegserklärung und die Meinung kippt innerhalb von Tagen“, erinnert Frie.

Juli 1914, Beginn des Ersten Weltkriegs: Die SPD organisiert Massendemos gegen den drohenden Waffengang, zwei Tage später bewilligt sie Kriegskredite. Und auch die Anschläge am 11. September 2001 haben die Formel der „uneingeschränkten Solidarität“ zur Folge, die es unter anderen Umständen in dieser Form vermutlich nicht gegeben hätte.

Entscheidungen hinterfragen

„Da verändert sich wirklich dauerhaft etwas in ganz kurzer Zeit“, sagt Frie und betont: „Das ist nicht folgenlos. Diese ruckartige Verschiebung kann man nicht wieder rückgängig machen.“ Es sei also die Verantwortung der politischen Akteure, sich bewusst zu sein, dass sie mit ihrer Entscheidung ein Instrument von enormer Wucht in der Hand halten – es kann zu guten oder zu schlechten Zwecken genutzt werden.

Umso wichtiger ist es, die getroffenen Entscheidungen zum gegebenen Zeitpunkt zu hinterfragen. Zunächst wird zwar gehandelt, in den Tagen danach müssen in einer funktionierenden Demokratie dann aber ebenso die Folgen abgewogen werden, sagt Frie.

In Eile gefasste Entscheidungen könnten Nebenfolgen nicht ausreichend berücksichtigen. Sie müssen daher auch wieder verändert werden können. Ausgenutzt sollte sie jedenfalls nicht werden, die Gemeinschaft, „die man sonst nicht hätte erzeugen können“.

Doch warum gibt es sie ausgerechnet jetzt? Wieso hatte die Annexion der Krim nicht bereits diese Wirkung? „Es ist ganz schwer prognostizierbar“, sagt Frie, „und nicht so, dass man sagen kann: Ein bestimmtes Level führt automatisch zu einer bestimmten Reaktion.“ Im Konflikt mit Russland sei der Einmarsch in die Ukraine der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Heutzutage würden dabei vor allem Bilder eine große Rolle spielen. Sie zeigen: Die betroffenen Menschen tragen ähnliche Kleidung, fahren die gleichen Autos, die Städte ähneln sich – „Das könnten auch wir sein“. Bilder können einen enormen Einfluss auf die Reaktion der Gesellschaft haben.

Als Beispiel nennt Frie die Fotos und Videos, auf denen zu Beginn der Corona-Krise Lastwagen in Bergamo zu sehen waren. „Mit diesen Bildern im Kopf waren die Deutschen bereit, harte Coronamaßnamen zu ertragen, obwohl es in Deutschland selbst noch überhaupt keine Evidenz gab, die jeder in seinem Alltag spüren konnte“.

Aber: Auch Bilder funktionierten nicht automatisch, sondern immer in gesellschaftlichen Zusammenhängen, betont der Historiker. In Deutschland könne man zum Beispiel viel eher Währungspaniken erzeugen als in anderen Ländern. „Das hängt mit den Inflationserfahrungen aus dem 20. Jahrhundert zusammen.“ Vor allem aber bleibe es eine Aufgabe von demokratischer Politik, verantwortlich mit Bildern umzugehen.

Wie Karsten Schubert, Politikwissenschaftler an der Universität Freiburg, betont, ist es in diesen Tagen genauso eine Aufgabe der Politik, durch erhöhte Militärausgaben nicht die Spaltung zwischen Arm und Reich weiter zu vertiefen: „Weil ansonsten langfristig unsere eigene Demokratie weiter destabilisiert wird.“ Darum sei es umso wichtiger, dass für die Finanzierung zukünftiger Programme die Vermögenssteuer wieder eingeführt und die Erbschaftsteuer erhöht werde, und die sozialen Sicherungssysteme nicht belastet würden.

Allmählicher Gewöhnungsprozess

Schubert zeigt außerdem auf, dass eine politische Wende meist nicht so plötzlich erfolgt, wie es erscheinen mag. Meist stecke eine lange Entwicklung dahinter, so auch in diesem Fall. „In Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine antimilitaristische Grundhaltung durchgesetzt in der Zivilgesellschaft und auch in der Politik.“ Die Außenund Sicherheitspolitik habe sich vor allem auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit konzentriert und diese auch als politisches Druckmittel eingesetzt, durch Wirtschaftssanktionen wie im Falle Russlands Annexion der Krim, aber auch zur direkten Einflussnahme, beispielsweise um afrikanische Staaten dazu zu bringen, Menschen an der Flucht nach Europa zu hindern. „Diese Außenpolitik, die nicht auf militärische Stärke gesetzt hat, hat so lange funktioniert, wie die westliche Allianz stabil war.“

Mit den Entwicklungen der vergangenen Jahre seien allerdings die Stimmen lauter geworden, die fordern, dass Deutschland militärisch einsatzfähiger und selbstständiger werden müsse. „Diese Problematisierung war schon da, der alte Diskurs war zwar noch stabil, aber schon brüchig.“

Bei genauem Hinsehen habe sich der Paradigmenwechsel bereits über eine längere Zeit angekündigt. Auch Schubert bezeichnet also den Einmarsch in die Ukraine als den letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Es war eine Frage der Zeit, wann eine Situation entsteht, die diesen Paradigmenwechsel begünstigt, sodass es dafür auch Mehrheiten gibt.“


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