Am 15. und 16. Juli veranstaltete Maria Sybilla Lotter vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit einen Workshop zum Thema an der Universität Bochum. Eingeladen waren neben mehreren Mitglieder des Netzwerks auch zwei Kritiker: Patrick Bahners von der FAZ und ich. Der Theorieblog veröffentlicht hier eine gekürzte und überarbeitete Version meines Vortrags. Darin reflektiere ich aus der Perspektive der kritischen politischen Theorie über die in der Debatte um Wissenschaftsfreiheit zentralen Begriffe Freiheit und Objektivität und komme auf dieser Grundlage zu einer ganz anderen Einschätzung der aktuellen Probleme der Wissenschaftsfreiheit als das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Meine Position hat dabei Nähe zu derjenigen des kürzlich gegründeten “alternativen” Netzwerks Wissenschaftsfreiheit, bei dem die Wissenschaftsfreiheit unter den Aspekten der fehlenden Teilhabe und Diversität sowie unhinterfragter Machtstrukturen problematisiert wird.

Dieter Schönecker eröffnete den Workshop mit einer Vorstellung des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit und der Erläuterung einiger der Fälle von “Cancelling” durch “linke” Theorien, die das Netzwerk dokumentiert. Sandra Kostner und Susanne Schröter kritisierten das Konzept des “antimuslimischen Rassismus”. Reinhard Merkel stellte detailreich vor, wie Georg Meggle ein Lehrauftrag an der Universität Salzburg entzogen wurde, nachdem er in die Nähe zur BDS-Bewegung gerückt wurde. Vojin Sasa Vukadinovic schilderte in seinem polemisch gehaltenen Beitrag vier “Cancelling”-Fälle aus dem Bereich der Gender Studies.

Patrick Bahners wies in seinem Vortrag darauf hin, dass das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit die Politisierung einseitig den “linken” Kritiker_innen vorwirft, während die “gecancelten” Professor_innen selbst einem politisierten Wissenschaftsaktivismus nachgingen. Die Konferenz von Susanne Schröter mit dem Titel „Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung?“ sei beispielsweise keine klassische wissenschaftliche Konferenz gewesen, sondern hatte die klare Absicht, in einen gesellschaftspolitischen Diskurs zu intervenieren. Meinungsfreiheit (zur einfachen Äußeren der politischen Meinung) und Wissenschaftsfreiheit würden also vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit unzulänglich vermischt, ohne dass dies kenntlich gemacht würde. Durch seinen unpolitischen Wissenschaftsbegriff verschleiert das Netzwerk also, dass es den Mitgliedern eher um politische Pluralität als um Wissenschaftsfreiheit geht. Es stellt sich nach Bahners Vortrag die Frage, wie eigentlich das Verhältnis von Wissenschaft und Politik genau begriffen werden kann und wie politisch oder unpolitisch (also weniger oder mehr getrennt von der Meinungsfreiheit) die Wissenschaftsfreiheit verstanden werden kann. Mein Vortrag schloss genau hier an und dient als erster Vorschlag für die Erarbeitung einer kritischen Theorie der Wissenschaftsfreiheit, die die Verknüpfung von Wissenschaft und Politik explizit reflektiert. Das Ziel ist dabei, besser zu bestimmen, wie Objektivität als dasjenige verstanden werden kann, was die Wissenschaft im Gegensatz zur Politik auszeichnet.

Die Gespräche beim Workshop waren produktiv, haben aber wegen unserer unterschiedlichen theoriepolitischen Hintergründe nicht zu Einigkeit geführt. Die Mitglieder des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit sehen insgesamt eine Hegemonie bestimmter “linker” Theorieansätzen in der deutschen Akademie und verstehen Wissenschaftsfreiheit als “viewpoint pluralism”, also der Repräsentation aller politischen Meinungen an der Universität. Beide Einschätzungen halte ich für falsch, und zwar auf Grundlage kritischer Sozialtheorien, die zeigen, dass das Denken an der Universität von Positionen der Mehrheitsgesellschaft geprägt ist, die nicht genügend hinterfragt werden. Der Einsatz für die Wissenschaftsfreiheit sollte darin bestehen, für mehr Standpunktdiversität an der Universität zu sorgen, was auch damit einhergeht, sexistische, homophobe, und transphobe Äußerungen zu sanktionieren.

Das Faktum der unterschiedlichen theoriepolitischen Ausgangspunkte ist eine Herausforderung für die Erarbeitung einer kritischen politischen Theorie der Wissenschaftsfreiheit. Denn die kritischen Theorien, auf deren Grundlage Standpunktdiversität gefordert werden kann, haben als Theorien selbst keinen universellen Anspruch, den man ihnen aber implizit zuweist, wenn man von ihnen aus die Rahmenbedingungen der Wissenschaft reformieren will. Die Aufgabe einer kritischen Theorie der Wissenschaftsfreiheit ist deshalb, den schmalen Grat zu navigieren, einen Begriff von Wissenschaftsfreiheit als Diversifizierung und Privilegienkritik zu entwickeln und reflektiv damit umzugehen, dass dieser Begriff selbst von einer partikularen theoriepolitischen Position geprägt ist.

Um diese Position zu begründen habe ich im Vortrag zunächst zwei grundlegende Begriffe der Debatte um Wissenschaftsfreiheit analysiert: einerseits Freiheit, andererseits Objektivität. Auf dieser Grundlage habe ich dann verschiedene Phänomene differenzieren, die als Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit diskutiert werden und sie mithilfe der vorgestellten Begriffe der Freiheit und Objektivität beurteilt. Dabei hae ich gezeigt, dass die vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit problematisierten Phänomene größtenteils keine kritikablen Einschränkungen von Wissenschaftsfreiheit sind. Es gibt aber durchaus bedrohliche Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit und zum Umgang damit habe ich institutionelle Vorschläge gemacht.

Hier geht’s zum Vortrag beim Theorieblog: https://www.theorieblog.de/index.php/2021/10/auf-dem-weg-zu-einer-kritischen-theorie-der-wissenschaftsfreiheit/


Mehr zum Thema