Call for Papers
Datum: 2.3 - 4.3.2023
Ort: Dresden und Zoom
Organisiert von: Dr. Lucas von Ramin und Dr. Karsten Schubert

Die Krisen der letzten Jahre, sei es die Klimakrise, die weltweite Pandemie, der Aufstieg des Rechtspopulismus, die Kulturkämpfe um Identitätspolitik, oder der Krieg in der Ukraine rufen demokratische Rechtfertigungen auf den Plan. Einerseits, weil unterschiedliche Protestgruppen (bis zum rechtsextremen Rand) für sich in Anspruch nehmen, für Demokratie, Gleichheit und Freiheit einzutreten. Der Streit um die berechtigte Inanspruchnahme verflüssigt damit auch den gesellschaftlichen und akademischen Konsens über den Wert jener Begriffe. Andererseits stehen die Demokratien des Westens selbst unter Kritik aufgrund der Beförderung regionaler und globaler Ungerechtigkeiten, beispielsweise im Kontext der Migrationsdebatte oder ein durch Krisen legitimiertes Durchregieren. Im Kontext des Ukrainekrieges dagegen wirkt die Welt in einen neuen Dualismus zwischen Demokratien und Autokratien geteilt, in dem das ‚Gute‘ dem ‚Bösen‘ gegenübersteht. Demokratie wird mit verschiedenem Bedeutungsgehalt als Gütesiegel verwendet.

Die Pluralisierung oder Dekonstruktion von Demokratie ist nicht neu, sondern schon lange Bestandteil poststrukturalistischer Demokratietheorie. Theorien Radikaler Demokratie (RD) bzw. des Politischen machen bereits seit ungefähr 30 Jahren darauf aufmerksam, dass ein Verselbstständigungsprozess westlicher Demokratien zu Legitimationskrisen führen wird. Postdemokratie (Crouch 2017) bezeichnete dabei eine im Kern durch Lobbyismus, oligarchische Eliten oder politisches Establishment vorangetriebene Abnahme an Mitbestimmungsmöglichkeiten, der durch „Demokratisierung der Demokratie“ (Offe 2003) entgegengewirkt werden müsse. Theorien Radikaler Demokratie erinnern deshalb daran, „dass sich bestehende Ordnungsmuster im Rahmen politischer Handlungen aufbrechen lassen.“ (Comtesse et al. 2019: 11). Weil errungene Entscheidungen immer auch anders hätten entschieden werden können, lässt sich Mitbestimmung und damit auch Demokratie nie abschließen, sondern bedarf der „konstanten Infragestellung“ (Marchart 2016) bzw. ist immer nur „im Kommen“ (Derrida). Kontingenz und Grundlosigkeit avancierten so zu Chiffren der eigentlichen radix, der Wurzel der Demokratie. Konflikt/Dissens/Kampf (Vasilache 2019) sind deshalb Konstitutionsbedingungen des Politischen.

So offensichtlich hilfreich diese Theorien sind, wenn es gilt, gegen eine Verkrustung demokratischer Gemeinwesen und damit auch gegen hegemoniale Ansprüche und Ungerechtigkeiten vorzugehen, so sprachlos wirken sie im Angesicht einer Dynamisierung von Krisen und Konflikten, die demokratische Gemeinwesen gefährden. Politisierungsprozesse umfassen nicht nur emanzipative und ökologisch motivierte Bewegungen, sondern insbesondere den Rechtspopulismus und ein post-faktisches bzw. verschwörungstheoretisches Spektrum. Doch eine klare normative Positionierung fällt schwer, wenn Demokratie maßgeblich als ein beständiges Ringen um Macht begriffen wird. Vertreter:innen Radikaler Demokratietheorie negieren sogar explizit das Interesse an normativen Begründungen und fassen sie maßgeblich als Form kritischer Intervention (Flügel-Martinsen 2020b). Offen bleibt aber, wie gemeinhin mit Demokratie verbundene Werte wie Freiheit und Gleichheit verteidigt werden können und wie sich die Bezugnahme auf diese Werte von ihrer vielleicht unrechtmäßigen Inanspruchnahme abgrenzen lässt (Buchstein 2020). Lässt sich überhaupt aus den postfundamentalistischen Grundbegriffen, wie Kontingenz, Macht, Konflikt, Hegemonie, Kritik, das Politische/die Politik eine normative Positionierung ableiten? Oder gibt es sogar gute, sich aus diesen Grundbegriffen ergebene, Gründe, auf eine solche normative Begründung zu verzichten und dies gerade als Stärke der Radikalen Demokratietheorie zu beschreiben.

Besonders spannungsreich ist zudem, dass Theorien radikaler Demokratie für gegenwärtige Krisen, wie Relativismus (Boghossian 2019), Postfaktizität (Vogelmann 2017) oder Spaltung der Gesellschaft mitverantwortlich gemacht werden, weil ihr Fokus auf Radikalität und Kontingenz kontraproduktiv erscheint (Flügel-Martinsen 2020a). Gleichzeitig bieten die Theoriebausteine der RD auch das geeignete Repertoire für die Analyse von Transformationsprozessen und prognostizierten beispielsweise den Aufstieg des Populismus (Mouffe 2017). Es bedarf daher einer Debatte um die Normativität radikaler Demokratietheorie (Ramin 2021), nicht nur um sie gegen den Relativismusvorwurf zu verteidigen, sondern gerade weil sie für die eingangs beschriebenen Krisen Chancen der Differenzierung und Kritik ermöglichen. Vielleicht wird der der Mehrwert Radikaler Demokratietheorie sogar offensichtlich, wenn der Anspruch der ‚konstanten Infragestellung‘ auch auf sie selbst angewendet wird.

Für den Workshop werden neben eingeladenen Vorträgen Vortragsplätze durch diesen Call for Papers vergeben. Wir freuen uns über Vorschläge zu den folgenden Diskursebenen:

  1. Um über normative Ansprüche zu sprechen, bedarf es einer Diskussion um die Theoriegrundlagen Radikaler Demokratietheorie. Wie lässt sich die RD in der Differenz zwischen normativen, deskriptiven und empirischen Theorien verorten? Lassen sich aus der Kontingenzdiagnose normative Schlüsse ziehen? Was verstehen RD unter normativen Begriffen wie Solidarität, Emanzipation oder Gerechtigkeit? Diese Fragen berühren weiterhin wissenschaftstheoretische und methodologische Probleme: Wie plausibel sind postmarxistische und poststrukturalistische Ansätze und woher kommt ihr Fokus auf kulturelle Kategorien und konstruktivistische Theoriegrundlagen? Wie ist die RD zwischen anderen Paradigmen, wie Liberalismus, Republikanismus und Kommunitarismus zu verorten?
  2. Daran schließen sich Debatten an, die entweder implizit oder sogar explizit bereits normative Ansprüche formulieren. Ist beispielsweise die Betonung von Differenz und der Anspruch diese auch aushalten zu können bereits eine Form von Prinzipienethik? Was heißt, dass RD „umfassender Rechenschaft“ (Flügel-Martinsen 2020b) über die Schwierigkeiten normativer Begründung ablegt? Lässt sich der Fokus auf ‚besondere‘ Reflexivität und Kritikfähigkeit moralphilosophisch einordnen, beispielsweise im Kontext „negativer Moralphilosophie“? Was bedeutet eigentlich ein Eigenwert von Kritik im Sinne der RD und gibt es für die Kritik normative Maßstäbe, wie beispielsweise die immanente Kritik? Findet sich der Verweis auf eine besondere Revisionsbereitschaft nicht bereits in liberalen (Rawls) oder diskurstheoretischen (Habermas) Entwürfen? Und wie kann die Ausdifferenzierung zu den Begründungsmöglichkeiten von Normativität, Kritik, und Fortschritt der aktuellen Kritischen Theorie produktiv herangezogen werden, um das normative Defizit der Radikalen Demokratie zu lösen? Die genannten Fragen werden in RD, beispielsweise mit Verweis auf Foucault, auch als Subjektivierungsstrategien formuliert (Schubert 2018). Diskutiert werden kann demnach, ob RD und die mit ihr verbundene Kritik an autonomen Subjekten neue Subjektivierungsideale setzt.
  3. Die erwähnten theoretischen Problemstellungen finden sich in aktuellen und konkreten Diskursfelder wieder. Wie positioniert sich die RD zu Diskussionen um Rechtspopulismus, Identitätspolitik, ‚cancel culture‘ oder Wissenschaftsfreiheit? Dazu gehört auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Implementierung. Welcher motivationalen und sozialpsychologischen Grenzen hat das Projekt ständiger Hinterfragung, insbesondere in Zeiten multipler Krisen? Welche Formen kann radikaldemokratische Politik, beispielsweise als „strategischer Essentialismus“ oder „letzter Universalismus“ (Schubert 2021) annehmen? Welchen normativen Anforderungen müssen radikaldemokratische Institutionen genügen (Herrmann und Flatscher 2020) ? Und ist der radikaldemokratische Zuspruch für Protestbewegungen tatsächlich besser davor gefeit, aus der Theorie eine paternalistische Wirkung zu entfalten - wie es der “woken“ Theorie bisweilen vorgeworfen wird -, als liberale Begründungen guter Institutionen?
  4. Schließlich lässt sich nach den zeithistorischen Umständen radikaldemokratischer Theorie fragen. Viele ihrer Grundlagen sind nicht neu, aber entstanden durch Kontingenzerfahrungen im 20. und 21. Jahrhundert. Passen sich der Fokus auf Kritik und Konflikt der RD ein in ein Zeitalter der Singularisierung (Reckwitz 2019) und damit vielleicht auch in einen „neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski und Chiapello 2003)? Spiegelt RD normative Vorstellungen und damit einen Zeitgeist der Moderne/Postmoderne?

Die genannten Diskursebenen bilden die Sektionen des Workshops. Weil auch die Radikalen Demokratietheorien nur im Plural von Fragestellungen und Problemen auftreten, sollen die genannten Ebenen keine Perspektiven ausschließen. Viele der aufgeworfenen Fragen sind notwendigerweise miteinander verbunden. Exposés können sich daher auf eine einzelne Fragestellung, aber auch auf eine der Ebenen oder den Zusammenhang zwischen diesen beziehen.

Der Workshop wird im Kolloquiumsformat abgehalten. Alle Referent:innen_innen senden ihre Texte von max. 5000 Wörtern eine Woche vor dem Workshop zur Lektüre an alle anderen. Eine Sitzung beginnt mit einem kurzen Eingangsstatement der Autor:innen zum Hintergrund des Textes (ca. 5 min), darauf folgt ein Kommentar von 10 min, der die allgemeine Textdiskussion eröffnet. Es gibt keine Vorträge außer den Keynotes (voraussichtlich von Oliver Marchart und Sabrina Zucca-Soest), die nicht über den CfP vergeben werden. Die Bewerbung setzt die Bereitschaft zur Übernahme eines Kommentars zu einem anderen Text voraus. Der Workshop ist bilingual; die Texte können auf Englisch oder Deutsch verfasst werden, und Diskussionsbeiträge können auf Englisch oder Deutsch geäußert werden. Wir bieten Übersetzungen für diejenigen an, die nur eine der Sprache verstehen.

Wir freuen uns über die persönliche Teilnahme in Dresden und können die Reise- und Übernachtungskosten begrenzt finanzieren. Wir bieten eine Hybrid-Option über Zoom für diejenigen, die nicht vor Ort teilnehmen können.

Einreichung

Abstracts (max. 500 Wörter) werden mit dem Betreff „CfP Normativität“ bis zum 15.11.2022 erbeten an Dr. Lucas von Ramin (lucas.ramin –ääähtt— tu-dresden.de) und Dr. Karsten Schubert (karsten.schubert –ääähtt— politik.uni-freiburg.de).

Download CfP

.. als pdf.

Literatur

Boghossian, Paul Artin. 2019. Angst vor der Wahrheit: Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus. Berlin: Suhrkamp.

Boltanski, Luc und Eve Chiapello. 2003. Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK Verlagsges.

Buchstein, Hubertus. 2020. Warum im Bestaunen der Wurzeln unter der Erde bleiben?: Eine freundliche Polemik zu den radikalen Demokratietheorien anlässlich des Einführungsbuches von Oliver Flügel-Martinsen. https://www.theorieblog.de/index.php/2020/10/buchforum-radikale-demokratietheorien-zur-einfuehrung/. Zugegriffen: 19. November 2020.

Comtesse, Dagmar, Oliver Flügel-Martinsen und Franziska Martinsen (Hrsg.). 2019. Radikale Demokratietheorie: Ein Handbuch.

Crouch, Colin. 2017. Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Flügel-Martinsen, Oliver. 2020a. Radikale Demokratietheorien zur Einführung.

Flügel-Martinsen, Oliver. 2020b. Wer kann einer so freundlich-polemischen Gesprächseinladung schon widerstehen? Eine Replik auf Hubertus Buchsteins Kritik radikaler Demokratietheorien. https://www.theorieblog.de/index.php/2020/10/buchforum-radikale-demokratietheorien-zur-einfuehrung-2/. Zugegriffen: 19. November 2020.

Herrmann, Steffen und Matthias Flatscher. 2020. Institutionen des Politischen: Perspektiven der radikalen Demokratietheorie. Baden-Baden: Nomos; Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.

Marchart, Oliver. 2016. Die politische Differenz: Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin: Suhrkamp.

Mouffe, Chantal. 2017. Über das Politische: Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Offe, Claus. 2003. Demokratisierung der Demokratie: Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt am Main: Campus-Verl.

Ramin, Lucas von. 2021. Die Substanz der Substanzlosigkeit: Das Normativitätsproblem radikaler Demokratietheorie. Leviathan 49 (3), 337–360.

Reckwitz, Andreas. 2019. Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne.

Schubert, Karsten. 2018. Freiheit als Kritik: Sozialphilosophie nach Foucault. Bielefeld: Transcipt Verlag.

Schubert, Karsten. 2021. Der letzte Universalismus. Foucaults Freiheitsdenken und die Begründung von radikaler Demokratie im Postfundamentalismus. In Das Politische (in) der Politischen Theorie, Hrsg. Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen und Martin Saar, 43–58. Baden-Baden: Nomos.

Vasilache, Andreas. 2019. Dissens/Konflikt/Kampf. In Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch, Hrsg. Dagmar Comtesse, Oliver Flügel-Martinsen und Franziska Martinsen, 492–504.

Vogelmann, Frieder. 2017. Demokratische Wahrheit statt postfaktischer Politik. Journal für politische Bildung 7 (4), 16–20.


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